21.05.2019

Elmar Brok: Einheit in Vielfalt. Eine Frage des Überlebens

Vom 23. bis 26. Mai wählt Europa sein neues Parlament – eine Schicksalswahl. Doch noch immer wollen sich nur knapp die Hälfte aller Deutschen an der Wahl beteiligen. Bei FOCUS Online schildern Politiker, Prominente und Wirtschaftsgrößen, warum diese Wahl für sie zählt – und was Europa für sie ganz persönlich bedeutet.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das ist der Beginn des Grundrechtekatalogs des Grundgesetztes und der Charta der Grundrechte der EU. Kein Satz drückt stärker die Besonderheit Europas aus als dieser. Der einzelne Mensch hat unabhängig von Religion, Nationalität, ethnischer Herkunft und Geschlecht seinen eigenständigen Wert.

Dieses Bild vom eigenständigen Menschen ist für mich das christliche Menschenbild des unabhängigen Individuums in sozialer Verantwortung und gilt für ganz Europa in einer Vielzahl von Variationen. Dies ist die Idee Europas.

Die europäische Idee

Ortega y Gasset (Anm. d. Red.: bedeutender spanischer Denker des zwanzigsten Jahrhunderts) hat einmal gesagt, dass vier fünftel der Kulturen der europäischen Nationen gleich seien. Die Hauptquellen sind aus dem jüdischen und christlichen Denken, der griechischen Philosophie, dem römischen Rechts- und Ordnungsdenken und der Aufklärung entstanden.
Oft genug haben wir, in Kriegen gegeneinander und gegen andere, in Verfolgungen anderer in Glaubenskriegen, nationalistischer Großmachtsucht, in Verfolgungen anderer mit den Höhepunkten des Holocausts und stalinistischer Gulags, dagegen verstoßen.
Aus den Ruinen und Lehren dieser moralischen und materiellen Katastrophen ist nach 1945 die Idee entstanden es nun anders zu machen: nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur war der Ruf der Schumans, Adenauers und der de Gasperis. Sie haben ihr Ziel erreicht – bisher.
Es erheben sich wieder die Häupter der Vergangenheit, der Katastrophen und Kriege und predigen die Größe und Überlegenheit der eigenen Nation. 70 Jahre Friede, Freiheit und Wohlstand sollen durch die alten Strukturen, die immer nur zu Krieg geführt haben, ersetzt werden.
Sie arbeiten dabei mit Wladimir Putin, Donald Trump und seinem Steve Bannon zusammen, die wie Chinas Präsident Xi ein ungeeintes Europa wollen und es damit als politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktor ausschalten wollen. Diese antieuropäischen, letztlich antidemokratischen, Populisten verkaufen die Werte und die Kraft ihrer Völker als Teil Europas.

Die Balance von Gemeinschafts- und Nationalinteressen

Nur durch die Idee Monnets (Anm. d. Red.: franz. Unternehmer, gilt als Wegbereiter der europäischen Einigung) des verfassten Gemeinschaftseuropas, des Europas der Supranationalität, konnte die Erfolgsgeschichte gelingen, mit Institutionen, die eine Balance von Gemeinschafts- und Nationalinteressen, von Effizienz und Demokratie, verbindlicher Gesetzgebung und Mehrheitsentscheidungen auf der Grundlage von Solidarität und Subsidiarität und richterlicher Kontrolle, herstellen. Dabei gibt es Fehler, aber die soll es auch in Berlin und Paris geben.
Auf jeden Fall erfüllt die EU die Erwartungen nicht, wo die Entscheidungen auf Einstimmigkeit beruhen. Ein intergouvernementales Europa ist ein solches Europa der Einstimmigkeiten und es ist seit dem Wiener Vertrag von 1815 immer gescheitert.
Die Einheit Deutschlands in Frieden, Freiheit und Zustimmung unserer Nachbarn konnte es nur durch das Vertrauen in das Europa Monnets geben. Mit der EU haben wir Deutschen endlich die Antwort auf die Erkenntnis Bismarcks, dass Deutschland zu klein für die Vorherrschaft und zu groß für die Balance sei, gefunden.

Kräfte bündeln oder zum „Wurmfortsatz des eurasischen Kontinents“ werden

Und welche Antwort kann der europäische Nationalstaat noch allein, in den Fragen der Globalisierung und Digitalisierung, des Klimawandels und der Migration, in der Wirtschafts- und Handelspolitik, bei der inneren und äußeren Sicherheit, geben? Keine.
Über die EU wollen wir unsere Kräfte bündeln, um die Souveränität unseres Volkes bei der Neuvermessung unserer Völker zu sichern.
Über Europa wollen wir unsere gemeinsamen Werte wie Freiheit und Menschenwürde, Demokratie und Rechtstaatlichkeit nach Innen und Außen sichern.
Wir werden Einheit in Vielfalt erreichen oder – nach Paul Valéry (Anm. d. Red.: franz. Philosoph und Essayist) – „Wurmfortsatz des eurasischen Kontinents“ werden.

„Zuckmayers Antwort auf die Ewiggestrigen, auf die „Gauländer“

Vom Rhein — noch dazu. Vom Rhein.
Von der großen Völkermühle.
Von der Kelter Europas!
Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor — seit Christi Geburt.

Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl,
braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht.

Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie,
das war ein ernster Mensch,
der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet.

Und dann kam ein griechischer Arzt dazu,
oder ein keltischer Legionär,
ein Graubündner Landsknecht,
ein schwedischer Reiter,
ein Soldat Napoleons,
ein desertierter Kosak,
ein Schwarzwälder Flözer,
ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland,
ein Magyar, ein Pandur,
ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler,
ein böhmischer Musikant

— das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt

und der der Goethe, der kam aus demselben Topf,
und der Beethoven
und der Gutenberg,
und der Matthias Grünewald
und — ach was, schau im Lexikon nach.

Es waren die Besten, mein Lieber!
Die Besten der Welt!
Und warum?
Weil sich die Völker dort vermischt haben.
Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen.

Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel.
Das ist Rasse.
Seien Sie stolz darauf, Hartmann —
und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt.

Prost