22.12.2016

Interview mit Elmar Brok MdEP, für ContraSalon

Nach dem Krieg haben die USA Italien mit Truppen und Dollars vor dem Kommunismus gerettet. Wer oder was könnte das Land nach der Renzi – Niederlage vom 4. Dezember retten?

Italien muss vor allem eigene Anstrengungen unternehmen, Strukturreformen beschließen und umsetzen. Unterstützung gibt es dann, wenn die Voraussetzungen für entsprechende Reformen erfüllt sind. Die Italiener müssen den Bankensektor stabilisieren und sollten sich dabei an den Lehren orientieren, die die EU aus der Finanzkriese gezogen hat. Ob eine Sicherung des Sektors mit Hilfe immer neuer Staatsschulden gelingt, wie es Rom soeben erst wieder angekündigt hat, wage ich zu bezweifeln. Italien ist das Land mit dem zweithöchsten Schuldenstand hinter Griechenland. Sie müssen das verkrustete politische System aufbrechen, das Land wirtschaftlich stabilisieren und so letztlich politisch handlungsfähiger machen, das ist die Aufgabe.
Die von Renzi eingeleitete Arbeitsmarktreform beispielsweise hat Früchte getragen. Davon braucht es mehr, nicht weniger. Weitere Regierungskrisen sowie die mangelnde Reformfähigkeit Italiens drohen negative Auswirkungen auf die EU haben. Die politisch Verantwortlichen in Brüssel und anderen Hauptstädten müssen also sehr bestimmt an Rom appellieren, der Verantwortung eines so wichtigen Landes für die EU gerecht zu werden. Rom muss die für die Handlungsfähigkeit Italiens notwendigen Teile der gescheiterten Verfassungsreform wieder aufgreifen.

Warum und mit welchen Folgen stimmte sogar eine EVP-Partei gegen Renzi unter Anführung von S. Berlusconi. Generell: Auf welche Kräfte in Italien wollen Sie sich künftig mit EVP-Partei und – Fraktion stützen?

Renzi wollte aus der Verfassungsreform einen großen Erfolg für sich selbst machen. Deshalb hat er das Thema personalisiert und parteipolitisiert. Damit hat er sich einen Bärendienst erwiesen. Denn es hat dazu geführt, dass sich viele aus der Opposition – einschließlich Mitgliedern der EVP – im Vorfeld des Referendums negativ geäußert haben, obwohl sie im Grundsatz für eine solche Verfassungsänderung waren. Sogar kluge und proeuropäische Leute wie der frühere italienische Ministerpräsident und Vizepräsident der EU-Kommission Mario Monti, haben aus Gründen gegen die Reform gestimmt, die nicht unmittelbar etwas mit der Sache zu tun hatten. Nun haben wir eine chaotische Lage in Rom.
Die EVP wird mit jenen   zusammenarbeiten, die sich der Verantwortung stellen, das Land als wichtigen Player in der europäischen Politik zu stärken und nicht, es zu schwächen oder aus der Eurozone herauszuführen, was beispielsweise die Fünf-Sterne-Bewegung betreibt. Wir werden also mit jenen zusammenarbeiten, die nicht gegen Flüchtlinge hetzen und auch sonst christliche Werte vertreten. Bei möglichen Neuwahlen hoffe ich auf die Vernunft der Italiener: Die Populisten der Fünf-Sterne oder die fremdenfeindliche Lega Nord werden das Land nicht nach vorn bringen.
Aus unserer Parteienfamilie kandidiert der Italiener Antonio Tajani für das Amt des Präsidenten im Europäischen Parlament. Er vertritt die europäische Idee ohne Wenn und Aber. Tajani und unterhält beste Kontakte nach Rom. Das verschafft uns dort Gehör, davon wird unsere Arbeit künftig profitieren. Als Proeuropäer wird Tajani mit aller Kraft proeuropäische Positionen in seiner Heimat vertreten. Unser Ziel muss es sein, die weitere antipolitische Radikalisierung großer Teile der italienischen Gesellschaft zu verhindern.

In Wien hat sich ein europäisch denkender Grüner als Bundespräsident durchgesetzt. Doch blieb seine Gegenpartei FPÖ in Umfragen so stark, dass Beobachter ihr zutrauen, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Brauchen wir nicht endlich eine große Plenardebatte des Europäischen Parlaments über die FPÖ und andere nach rechts drückenden Parteien in der EU?

Viele Politiker scheuen den offenen Schlagabtausch mit Populisten aus lauter Angst. Ich aber sage: Wir müssen Nationalchauvinisten, Fremdenhasser und die Brandstifter, die sich als Biedermeier maskieren, in aller Öffentlichkeit stellen. Dafür ist auch das Europaparlament der richtige Ort. Denn es gibt sie längst, die europäische Innenpolitik. Das haben die vergangenen Jahre mit ihren Krisen gezeigt. Alles, was national geschieht, hat Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Deshalb genießen Volksabstimmungen wie in Italien und Bundespräsidentenwahlen wie in Österreich heute eine so große EU-weite Aufmerksamkeit.
Alexander Van der Bellen hat bewusst einen ganz klar proeuropäischen Wahlkampf gegen seinen Herausforderer von der FPÖ geführt. Damit hat er die Stichwahl gegen Hofer unerwartet deutlich für sich entschieden. Es lassen sich also auch in diesen schwierigen Zeiten mit klaren proeuropäischen Aussagen Wähler gewinnen! Ich verstehe das als Signal dafür, dass wir uns den Nationalpopulisten noch mutiger und offensiver entgegenstellen sollten. Denn natürlich ist die Gefahr, dass Populisten vom Schlage der FPÖ-Politiker bei Wahlen weiter erstarken, nicht gebannt. Zu groß sind die Sorgen der Bürger vor den Auswirkungen der Globalisierung und den weltweiten Migrationsbewegungen. Deshalb sollten wir Proeuropäer viel stärker für das System der liberalen Demokratie in einem geeinten Europa eintreten und unsere Bürger von den Vorteilen der EU überzeugen. Globalisierung lässt sich nämlich besser gemeinsam gestalten als in nationalen Alleingängen.
Wenn wir für die offene Gesellschaft eintreten, für freie Märkte und den freien Austausch von Waren und Ideen, für eine Gemeinschaft, die ihren Menschen Sicherheit nach innen und außen garantiert, dann können wir der FPÖ, aber auch der AfD, dem Front National und anderen Populisten den Wind aus den Segeln nehmen. Darüber brauchen wir eine Debatte. Dafür müssen wir auch im Europaparlament offen sein. Die Geschichte hat noch stets gezeigt: Nationalismus hat Europa nur Verderben und Unglück gebracht.

Die Leitung der französischen Schuman-Stiftung hat sich vehement gegen all jene gewandt, die der Meinung sind, Europa müsse „ganz neu erfunden werden“. Sollten nicht alle nationalen Stiftungen und unabhängigen Pro-Europa-Gruppen in der EU gemeinsam erklären, dass am Grundkonzept des Europas von Schuman und Adenauer gar nichts geändert werden muss?

Es stimmt: Europa muss nicht neu erfunden werden. Aber die EU muss sich weiterentwickeln, muss sich den jeweiligen Herausforderungen der Gegenwart anpassen. Das hat sie im Übrigen seit ihrer Gründung auch immer wieder getan. Leider haben sich Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren nötigen Reformen viel zu lange widersetzt haben. Sie stehen nun in der Pflicht.
So brauchen wir in der Außen- und Sicherheitspolitik dringend eine stärkere Zusammenarbeit. Konkretes Beispiel Türkei: Das zwischen Ankara und der EU ausgehandelte Flüchtlingsabkommen hat die gewünschten Resultate gebracht, die Flüchtlingszahlen von der Türkei nach Griechenland sind von mehr als Zehntausend am Tag im Oktober 2015 auf inzwischen gerademal rund 100 täglich gesunken. Wer gemeinsam handelt, hat also etwas davon! Deshalb brauchen wir auch in unserer Afrika- und Entwicklungspolitik mehr Gemeinschaftsgeist, um künftige Migration zu gestalten. Und was die Bekämpfung von Terrorismus angeht – Berlin hat gerade seine erschütternde Erfahrung damit gemacht – da brauchen wir endlich mehr Teamspirit bei der Kooperation der Nachrichtendienste, einen Informationsaustausch, der diesen Namen auch verdient.
Das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt hat erneut gezeigt, wie dramatisch schlecht die Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten und Polizei in Deutschland, in den Bundesländern und in Europa ist. Den Krieg gegen den Terror können wir nur gewinnen, wenn rechtliche Schranken, Gewohnheiten und Strukturen durchbrochen werden. Der nationalistische Weg, mit dem die AFD das Konzept der Gemeinsamkeit der EU zerbrechen will, durchkreuzt das; dieser Weg ist eine Lüge.
Auch in der Verteidigungspolitik hilft der nationalistische Weg nicht weiter. Hier werden derzeit Milliarden Euro an Steuergeld verschwendet. Die EU-Staaten geben rund 200 Milliarden Euro für Verteidigung aus – mehr als doppelt so viel wie Russland. Und mit 1,5 Millionen Soldaten haben wir mehr als die USA. Das Ergebnis ist eine Katastrophe. Wir brauchen Synergieeffekte auch bei der Beschaffung.
Die vollständige Umsetzung der im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik ist überfällig. Die EU wird ihr volles Potenzial nur durch Kombination ihrer konkurrenzlosen Soft Power mit einer bislang weitgehend fehlenden Hard Power nutzen können. Hierzu gehören die operative Nutzung der EU-Battlegroups komplementär zur NATO, eine effektivere Krisenreaktionsfähigkeit durch den Aufbau eines ständigen zivil-militärischen Hauptquartiers im Rahmen einer Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit einer Koalition der Willigen sowie die Freisetzung enormer Synergiepotenziale durch intensivere militärische Kooperation bei der Güterbeschaffung und der Zusammenlegung von Fähigkeiten und Einheiten. Nach dem jüngsten Europäischen Rat im Dezember ist derlei in Reichweite.
Ich habe zur Außen- und Sicherheitspolitik jüngst einen Bericht vorgestellt, den das Europäische Parlament mit breiter Mehrheit angenommen hat. Das Bewusstsein dafür, beginnt sich auch langsam bei den nationalen Regierungen durchsetzen. Sie sollten wissen: Europa ist nur stark, wo es das Gemeinschaftseuropa gibt. Das sollten auch politische Stiftungen klar herausarbeiten. Ich bin mir sicher, dass unsere Weiterentwicklungskonzepte den Ideen der EU-Gründerväter Monnet, Schuman und Adenauer entsprechen. Die Methode Monnet, also das  Konzept „des politischen Funktionalismus“, wonach Staaten dann zusammen wachsen, wenn einzelne Politikbereiche miteinander verbunden werden, verschmelzen und sich auf andere Bereiche übertragen, sollten die Stiftungen klar machen.

Frage: Vom Eintritt in die EG 1973 bis zum Brexit 2016 haben die Briten europapolitische Fortschritte gebremst. Jetzt sagt die Londoner Regierung, man habe der politischen Komponente der EG und der EU niemals zugestimmt. Ist der Brexit wirklich ein Verlust für EU-Europa?

Selbstverständlich hat sich kein Proeuropäer den Brexit gewünscht. Für die EU wird der Austritt des Vereinigten Königreiches zweifellos viele Nachteile bringen; für das UK selbst wird es katastrophale Folgen haben, vor allem wirtschaftliche. Aber wir müssen ein demokratisches Votum natürlich respektieren. Außerdem soll man Reisende bekanntlich nicht aufhalten.
So gilt es nun für uns, im Sinne unserer Prinzipien hart aber konstruktiv zu verhandeln. Bei der Frage des britischen Verbleibens im Binnenmarkt dürfen nicht einknicken, wenn es um die Personenfreizügigkeit geht – eine britische Rosinenpickerei darf es keinesfalls geben. Und wir sollten unseren Blick in der Tat auf die positiven Aspekte des Brexit richten: Ohne britische Blockaden hat etwa der Bratislava-Prozess das Potenzial, im Jahr 2017 zu großen Fortschritten bei unserer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu führen. Ich habe auch das Gefühl, dass der bevorstehende Brexit und das Verhalten der neuen britischen Regierung die übrigen EU-Mitgliedstaaten enger zusammenrücken lässt nach dem Motto: Jetzt erst recht. Der Brexit darf sich auch vordergründig nicht lohnen. Entstünde dieser Eindruck, könnten nämlich weitere Länder folgen, und dies wäre womöglich das Ende der Europäischen Union. Aber es muss auch klar sein, dass es am Ende im allseitigen Interesse eine vernünftige Vereinbarung geben muss.