01.10.2010
Erscheint im Westfalenblatt am Samstag 2. Oktober 2010
„Danke, Herr Bundeskanzler!“
Von Elmar Brok, MdEP
Bei allen Problemen – die deutsche Einheit ist eine große Erfolgsgeschichte. Wer die Städte und Dörfer, die Häuser und Straßen, die Büros und sonstigen Arbeitsplätze, die Luft und die Flüsse vor der Wende gesehen hat, wird von „blühenden Landschaften“ zu Recht reden.
Jetzt zum 20. Jahrestag kommen die persönlichen Erinnerungen zurück. Am 10. November tanzte ich mit dem heutigen CDU-Generalsekretär Gröhe vor dem Brandenburger Tor, ungläubig und hilflos. Noch am selben Tag erhielt ich aber von dem vor wenigen Tagen verstorbenen EVP-Fraktionsvorsitzenden Klepsch den Auftrag, für die nächste Plenarsitzung des Europäischen Parlaments (EP) eine Entschließung zu formulieren und mit den anderen Fraktionen zu verhandeln. Wenige Tage später hatten wir eine große Mehrheit, die den Weg für die deutsche Einheit im EP öffnete. Genau so gelang es später, dem Vorschlag des Sonderausschusses „Deutsche Einheit“, in dem ich Sprecher meiner Fraktion war, dass man dem Einigungsvertrag zustimmen solle, bei nur wenigen Gegenstimmen im EP durchzusetzen.
Ich erinnere mich noch, dass uns dabei Jacques Delors und der britische Kommissar und gebürtige litauische Jude Leon Brittan, Leo Tindemans und die Auschwitzüberlebende Simone Veil intensiv unterstützten, gegen den Widerstand von einigen deutschen Sozialdemokraten, die Lafontaine folgten. Das waren sicherlich nicht die wesentlichen Entscheidungen. Die waren vom ersten Tag mit dem Namen Helmut Kohls verbunden.
Am 02. Oktober 1990 fuhr ich dann vom euphorischen CDU-Einigungsparteitag mit dem Zug nach Hannover und von dort mit meiner Familie nach Berlin. Meine Frau, die als Kind mit ihren Eltern aus der DDR geflohen war, war voller Freude. In dem völlig überfüllten Zug kamen die Erinnerungen an die fast drei Monate, die ich im Auftrag Kohls und Rühes für den Volkskammerwahlkampf am 18. März verbracht hatte und mit den Landsleuten dort gelebt und gearbeitet habe.
Die Gedanken gingen nur wenige Tage zurück, als ich nach dem Rücktritt des SPD-Außenministers Meckel in den Tagen des irakischen Überfalls auf Kuwait gebeten wurde, das Ministerbüro mehrere Tage zu besetzen, damit kein Unfug von alten Kadern angerichtet werden konnte. Der Apparat funktionierte noch, weltweit produzierten DDR-Botschafter ihre Berichte – eine gespenstische Szene.
Dies galt auch für die Beratung und Betreuung von Volkskammerabgeordneten am Rande der Plenarsitzungen vor Verabschiedung des Einigungsvertrages. Die Volkskammer war aus dem asbestverseuchten Palast der Republik inzwischen in den ZK-Plenarsaal der SED, in dem noch vor zehn Monaten Honecker das Wort führte, verlegt worden. Ein freies Parlament besiegelte die Einheit in Freiheit in der alten kommunistischen Machtzentrale.
Und – war das erst fünf Monate her – das Gespräch mit dem ersten freigewählten DDR-Ministerpräsidenten über den außenpolitischen Teil seiner Regierungserklärung im April und die Vorbereitung seines Besuches im EP am 14. Mai. In dem alten Arbeitszimmer des SED-Granden Willy Stoph fand das statt. Dabei stellte er mich einer jungen Mitarbeiterin namens Angela Merkel vor.
Es überkam mich eine große Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern. Schon im Dezember hatte ich mit Reagans Wahlkampfleiter, Fahrenkopf, Souvenirs aus der Mauer geschlagen an der Stelle, an der dieser große Präsident 1987 den Fall der Mauer gefordert hatte. Ich dachte an die Berater von Baker und Bush, den heutigen Weltbankpräsidenten Zoellick und John Schmitz, die ich damals oft sah und mit denen mich heute eine tiefe persönliche Freundschaft verbindet. Vor meinen Augen tauchte der über achtzigjährige David Morse auf, der schon unter Truman Minister war, und mich zu einem Abend im Mai in eine Clubbibliothek zu einer vierstündigen Diskussion mit den zehn führenden jüdischen Sprechern Amerikas – Reich, Bialkin, Jackie Kennedys Lebensgefährte Tempelman etc. – eingeladen hatte, um das neue Deutschland zu vertreten. Das Kanzleramt hatte mich präpariert.
In Berlin trafen wir auf eine ausgelassene Bevölkerung, die ich so wohl nie wieder sehen werde. Ich durfte mit meiner Familie in den Reichstag und auf die Treppe davor. Als ersten trafen wir dort auf den US-Botschafter Vernon Walters, der sich ganz allein auf den Klappstuhl bescheiden an die Seite gesetzt hatte. Schon wenige Tage nach dem Mauerfall hatte er mich in Bonn zu einem Gespräch eingeladen, die Einheit zum selbstverständlichen Ziel erklärt und Strategien dafür erörtert.
Die Begeisterung der Menschen, das Aufziehen von Schwarz-Rot-Gold und das Lied der Deutschen um 24 Uhr ließen bei uns alle Dämme brechen. Ich sah, wie ein weinender Willy Brandt Helmut Kohl die Hand gab und etwas sagte. Später hörte ich, was es war: „Danke, Herr Bundeskanzler!“ Dieser Dank wird in der deutschen Geschichte Bestand haben.