13.09.2010

Die ungekürzte Antwort von Elmar Brok auf die EU-Schelte von Frederick Forsyth im FOCUS vom 23.08.2010

Europa ist kein Ort für Verschwörungen – Eine Replik an Frederick Forsyth

Von Elmar Brok MdEP

Europa als Verschwörung, die EU als Totengräberin der Demokratie – dieses düstere Bild zeichnete vergangene Woche an dieser Stelle der britische Romanautor Frederick Forsyth. Verbunden mit der Aufforderung an Deutschland „wieder aufzustehen“, präsentierte Forsyth den EU-Gründervater Jean Monnet als diabolischen Spiritus Rector und Europas Institutionen als Hort einer dunklen Macht, die nichts mehr wünscht als dem Bürger jegliche politische Mitsprache zu entziehen.
Nun lassen sich Forsyths Ausführungen leicht als die blühende Phantasie eines lebensfernen Romanschreibers abtun, dessen Geschichten ihre eigene Realität entfaltet haben. Die Entscheider im realen Brüssel sind wohl kaum gleichzusetzen mit den Weltverschwörern, Gangstern und sonstigen Finsterlingen aus den „Tagen des Schakals“ oder der „Akte Odessa“.
Forsyth lebt in der Vergangenheit und versucht sich als großer Verführer der Deutschen. Dabei sind es die Mitgliedstaaten, die der EU ihre Kompetenzen verleihen – und notfalls wieder entziehen können. Die EU ist deshalb kein Empire, und Brüssel nicht das imperialistische London, allein schon weil jedes Land die EU durch eigene Entscheidung verlassen kann. Die Träger von Europas Souveränität sind die Nationalstaaten und mit ihnen die Regierungen und Parlamente in den einzelnen Hauptstädten.
Die EU-Kommission kommt nur nach Zustimmung der Regierungen und dem vom Volk gewählten Europäischen Parlament ins Amt, hat also eine doppelte demokratische Legitimation, wie das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil festgestellt hat. Das Parlament kann die Kommission entlassen und hat dies bereits einmal erzwungen – und dazu schon mehrfach die Benennung einzelner Kommissare verhindert.
Das Europäische Parlament beschließt in einem Zwei-Kammer-System gleichberechtigt mit den nationalen Regierungen Europas Gesetze und seinen Haushalt. Nahezu alle Drittlandsverträge bedürfen der Ratifikation durch die Europaabgeordneten, wie im Februar die Ablehnung des SWIFT-Abkommens mit den USA bewies. Da für eine Mehrheit im Rat 55 Prozent der Staaten und 65 Prozent der Bevölkerung notwendig ist, steht Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern nicht so schlecht da.
Von Mangel an Demokratie kann da nicht die Rede sein, von Verschwörung erst recht nicht. Aber Forsyth will uns sowieso weismachen, dass die wahre Macht in Brüssel bei der EU-Kommission und der Verwaltung liege. Das würde dann auch wieder in einen Roman passen: der hinterhältige EU-Kommissar oder Europapolitiker, assistiert von niederträchtigen Gesellen, hintertreibt listig den arglosen Bürger bis dieser nichts mehr zu sagen hat in dieser Welt.
Vielleicht stört es Forsyth aber vielleicht auch nur, dass Europas Abgeordnete im Gegensatz zum britischen Unterhaus die eigene Tagesordnung selber festlegen können, ohne dabei von einem Premierminister jederzeit mit Auflösung bedroht werden zu können. Als mein Gast kann sich Frederick Forsyth in Brüssel und Straßburg diese Realität gerne ansehen.
Aufgestanden ist Deutschland wieder nach den physischen und moralischen Verwüstungen, dem Leid und der Schuld des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts, nur eben leider nicht in der Art und Weise wie Herr Forsyth sich das wohl vorstellt. Denn die EU ist ja gerade die Antwort auf den Bruderkampf der Nationalstaaten. Monnet, Schuman, Adenauer und Kohl haben über Hitler und Stalin gesiegt.
Die Vereinigten Staaten von Europa – ohne Britannien – forderte 1946 denn auch kein Geringerer als Großbritanniens Ex-Premier Winston Churchill in seiner Züricher Europarede und später im Europarat – eine Tatsache, die Großbritanniens Euroskeptiker gerne unter den dicksten aller Teppiche kehren möchten.
Für unser Land hier und heute aber hat Churchills weitsichtiger Appell nichts von seiner Dringlichkeit und Bedeutung verloren. Denn Europa ist kein Projekt der Vergangenheit, auch wenn die Debatte über Sinn und Zweck der EU auch heute noch viel zu sehr mit den Argumenten der letzten 60 Jahre geführt wird. Jean Monnet wollte mit der Montanunion Krieg und Diktatur unmöglich machen – das war sein Motiv. Der Kriegsverlierer Deutschland wurde exakt fünf Jahre nach Ende der Kämpfe als gleichberechtigter Partner eingeladen. Das Ziel, das nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in Frankreich zunächst über die Wirtschaftsgemeinschaft und später über den Binnenmarkt und die Währungsunion weiterverfolgt wurde, ist heute auf wundervolle Weise erreicht. Fast ganz Europa lebt heute in Frieden, Freiheit und Wohlstand in einer Rechtsgemeinschaft zusammen. Deutschland ist vereint mit Zustimmung seiner Nachbarn in Frieden und Freiheit – erstmals in unserer Geschichte. Dazu haben der Binnenmarkt und die Stabilität Europas Deutschland als große Exportnation so sehr genützt, daß es unserem Land so gut geht wie nie zuvor in seiner Geschichte.
Warum also sollten wir uns vom englischen Nationalisten Forsyth in die Falle des Wilhelminismus locken lassen? Briten wie er lieben auch deshalb die EU nicht, weil sie in der Geschichte nur bei einem geteilten Kontinent das letzte Wort hatten. Deshalb möchten sie auch schnell die Türkei in die EU aufnehmen, um auf diese Weise die Gemeinschaft von innen zu schwächen.
Natürlich gibt es auch in der EU Fehlentwicklungen. Das gilt aber auch für Entscheidungen in London oder Berlin. Auf Fehlentscheidungen hat Brüssel kein Privileg. Zu viel Gesetzgebung und zu wenig Bürokratieabbau, zu langsame Entscheidungen, zu wenig Konsolidierung nach der letzten Erweiterung sind solche Punkte. Hier sind die Bürger zu recht verärgert, hier muss Politik auf allen Ebenen besser werden. Das darf aber doch nicht zur Zerstörung des Gesamtkonzepts führen. Soll Europa etwa ohne die Institutionen und die Rechtsgemeinschaft, die den Zusammenhalt und den Konsens möglich machen, wieder allein dem Kampf der nationalen Interessen mit den Methoden der Vergangenheit ausgesetzt werden? Oder was ist die Alternative? Sollen die Großen in Direktorien wieder die kleinen Länder gängeln und Bündnisse gegeneinander schaffen? Das wäre doch das Ergebnis.
Und wie sollen die europäische Völker in der globalen Ordnung bestehen angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung, der veränderten politischen Kräfteverhältnisse angesichts aufstrebender Mächte wie China? Wie jeder für sich Terrorismus, organisierte Kriminalität, Umweltzerstörung bekämpfen?
Wie sehr dieser Zusammenhalt nötig ist, hat nicht zuletzt die Bankenkrise gezeigt, als sogar Großbritannien nichts anderes übrig blieb als mit seinen Partnern in der EU zusammenzuarbeiten. Gemeinsam haben die Europäer die Bankenkrise abgewehrt. Und sie haben erkannt, dass sich Regeln für die weltweiten Finanzmärkte nur gemeinsam durchsetzen lassen.
Nein, Herr Forsyth, schmeicheln Sie nicht den Deutschen, um uns in die Falle zu locken, in der die Schakale auf uns warten. Die EU ist für uns der beste Weg, wenn sie auch verbesserungswürdig und -fähig ist. Wen wundert es letztlich, daß Entscheidungen hier nur langsam fallen, wenn 27 Länder unterschiedlicher Geschichte, Größe und Mentalität am Tisch sitzen?
Deutschland muss sich auf diese Realitäten neu einstellen und Europa wieder ernst nehmen, nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Denn die EU ist eben weder das Epizentrum einer Polit-Verschwörung, noch das verstaubte und nutzlose Traumschloss einer längst vergangenen Nachkriegszeit. Nichts dergleichen: die EU ist die einzige Möglichkeit für Deutschland und alle anderen Staaten auf unserem Kontinent, Einfluss zu nehmen auf die wichtigsten globalen Veränderungen. Und zwar nicht als Selbstaufgabe, sondern aus ureigenem Interesse, und in enger Abstimmung, sorgsamem Ausgleich und gelebter Solidarität mit unseren Nachbarn. Europa ist weder Schreckgespenst noch (Altherren)-Romantik, sondern Realpolitik. Und das bedeutet vor allem eins: alle Phantasieromane weglegen und der Wirklichkeit ins Auge blicken.