24.10.2014

Brok: «Wir haben keine Russland-Politik»

Vor der Haustür der EU wird geschossen. Doch der Staatengemeinschaft mangelt es an einer kohärenten Russland-Politik, meint der Außenpolitiker Elmar Brok. Er hofft, dass der Abgang der Britin Catherine Ashton als Chefdiplomatin Bewegung bringt.

Brüssel (dpa Insight) – Wenn es um den Auftritt der EU-Staaten gegenüber Moskau geht, fällt Elmar Broks Urteil harsch aus: Die Gemeinschaft habe keine Russland-Politik, monierte der Chef des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament im Interview von dpa Insight EU. Aber der CDU-Abgeordnete glaubt, dass die sich verschlechternde Sicherheitslage in der Nachbarschaft die EU dazu zwingen wird, die Möglichkeiten der EU-Verträge zu nutzen, um eine gemeinsame Verteidigungspolitik voranzubringen.

«Die Situation um uns herum hat gezeigt, dass Krieg in Europa möglich ist, und wird den Druck zu mehr Zusammenarbeit in Verteidigungs- und Sicherheitsangelegenheiten erhöhen», sagte Brok. Das Ausscheiden der Britin Catherine Ashton als EU-Chefdiplomatin beseitige ein wichtiges Hindernis für eine solche Kooperation. Unter ihrer Nachfolgerin, der Italienerin Federica Mogherini, könne es leicht fallen, eine Koalition für eine engere Zusammenarbeit zu finden.

Großbritannien ist entschieden gegen jede Verlagerung nationaler Verantwortung an die EU im Verteidigungsbereich. Es kann allerdings

andere Mitgliedstaaten nicht daran hindern, bei dem Thema vorzupreschen: Die Artikel 42 und 46 des Vertrags von Lissabon sehen die Möglichkeit vor, dass einige Mitgliedstaaten militärisch stärker zusammenarbeiten und eine «Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union» begründen.

Brok sagte, er erwarte, dass Mogherini Führungsqualitäten zeige und die 28 Mitgliedstaaten in Richtung einer kohärenteren gemeinsamen Politik im Hinblick auf Russland und bei Energiethemen führe.

dpa: Federica Mogherini, eine italienische Sozialdemokratin, war nicht Ihre Favoritin als Hohe Beauftragte der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, doch jetzt werden Sie fünf Jahre mit ihr arbeiten müssen. Was sind die wichtigsten Veränderungen, die Sie in der EU-Außenpolitik und der Arbeit des Europäischen Auswärtigen Dienstes (englisches Kürzel EEAS) sehen wollen?

Brok: «Ich dachte, dass jemand wie (der frühere polnische Außenminister Radoslaw) Sikorski oder (der frühere Schwedische Außenminister Carl) Bildt Hoher Beauftragter sein sollte. Aber ich denke, sie ist eine sehr gut ausgebildete und erfahrene Außenpolitikerin, nicht als Ministerin, aber als früheres Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des italienischen Parlaments. Das ist ein riesiger Vorteil im Vergleich zu ihrer Vorgängerin. Mogherini hat außerdem versprochen, stark als Vizepräsidentin der Kommission zu arbeiten. Das heißt, sie wird das Cluster der außenpolitischen Kommissare leiten, um Synergieeffekte zwischen Rat und Kommission zu schaffen, und der EEAS wird ein sehr hilfreiches Instrument dafür sein.»

dpa: Ist dies die einzige Veränderung, die Sie gerne sehen würden?

Brok: «In den auswärtigen Beziehungen der EU haben wir zwei verschiedene Zuständigkeiten. Die eine ist gemeinschaftlich – Handel, Entwicklung, Nachbarschaftspolitik, Erweiterung etc. Die andere ist intergouvernemental. Mogherini muss diese zwei Teile zusammenbringen. Der EEAS war für dieses Ziel gedacht. Es kann viel mehr getan werden, um dies zu erfüllen. Soweit gab es keine echte Führung, um den Rat in bestimmte Richtungen zu bringen. Wir haben keine Russland-Politik, wir haben keine Energie-Politik, wir wurden von den Entwicklungen im Mittleren Osten überrascht. All das ist nicht gut. Hier brauchen wir Veränderungen.»

dpa: Wenn es an Ihnen läge, die Russland-Politik der EU zu definieren, was wäre die Basis Ihrer Definition?

Brok: «Wir wollen eine gute Beziehung mit Russland. Eine strategische Partnerschaft ist im Interesse Russlands und der EU. Aber das bedeutet, dass Russland die Regeln akzeptiert, besonders die Regeln des Völkerrechts, die im Fall der Ukraine verletzt wurden.»

dpa: Ist das nicht Wunschdenken? Glauben Sie noch, dass Russland nach den Regeln spielen wird?

Brok: «Wenn die EU ihr Potenzial zusammenführt, ist sie der größte Handelspartner, der größte Markt und der größte Energiekunde. Da sehen Sie, dass wir genug Einfluss-Möglichkeiten haben, wenn sie mit einer einzigen politischen Stimme kombiniert werden.»

dpa: Aber die EU scheint nicht willens zu sein, diese Möglichkeiten zu nutzen, wenn es um Russland geht.

Brok: «Das ist einfach nicht wahr. Die EU hat Russland Sanktionen auferlegt, die vor drei oder vier Monaten nicht möglich waren. Sie treffen Russland sehr.»

dpa: Na und? Auf dem Boden gibt es nicht viel Fortschritt in der Ostukraine.

Brok: «Die Kämpfe um Mariupol haben gestoppt, wir haben einen Waffenstillstand. Er ist noch wackelig, aber trotzdem ist die Situation besser als vor zwei Monaten. Diese Politik muss sich in Mogherinis Amtszeit entwickeln. Die EU muss da mehr tun. Aber Sie müssen auch sehen: Ein totalitärer Anführer würde militärische Stärke als kurzfristigen Vorteil einsetzen, während demokratische Kräfte niemals gerne Gewalt einsetzen. Das ist eine Lektion der Geschichte.»

dpa: In ihrer Anhörung sagte Frau Mogherini, dass sie gerne mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko daran arbeiten würde, eine Einigung mit der russischen Minderheit in der Ukraine zu finden, statt mehr Druck auf Russlands Präsident Wladimir Putin auszuüben, die Minderheit nicht mehr zur Destabilisierung des Landes zu nutzen. Würden Sie eine solche Herangehensweise unterstützen?

Brok: «Der Status der russischen Minderheit in der Ukraine ist eine Verantwortung der Ukraine. Aber: Diese Minderheit ist in guter Verfassung und es gibt keine Verletzungen von Minderheitenrechten in der Ukraine.»

dpa: Denken Sie, die EU sollte Kiew zu mehr Zugeständnissen an die russische Minderheit drängen, ihr Autonomie einzuräumen zum Beispiel?

Brok: «In dieser Sache könnten sie mehr Dezentralisierung bekommen, aber keine Autonomie.»

dpa: Sollte die EU anerkennen, dass ihre Nachbarschaftspolitik in den vergangenen drei Jahren gescheitert ist – vom sogenannten Arabischen Frühling bis hin zur Ukrainekrise? Muss die EU diese Politik überdenken?

Brok: «Diese Politik muss überdacht werden, aber Sie können die EU nicht für die dortige Situation verantwortlich machen. Die Gründe liegen in den Ländern selbst. In den meisten dieser Fälle ist der politische Islam so stark, dass man kein demokratisches Umfeld schaffen kann. Und das ist die gefährlichste Fragestellung.

dpa: Andererseits, würden Sie zustimmen, dass die EU-Außenpolitiker nicht einfühlsam und realistisch genug waren im Hinblick auf diese Länder?

Brok: «Das ist wahr. Offensichtlich ist die ganze Welt gescheitert, wo wir gescheitert sind. Einige Leute dachten, dass Kompromisse mit dem politischen Islam erzielt werden können. Dies war nur in Tunesien in einer gewissen Weise möglich, weil es dort eine Mittelschicht gibt.»

dpa: Wie sieht es mit der Einschätzung der Lage in der Ukraine aus?

Brok: «Das Problem ist, dass wir in Europa unter der Herrschaft des Völkerrechts gelebt haben, bis zu Russlands Aggression auf der Krim und dann in der Ostukraine. Das bedeutet, dass jedes Land das Recht hat, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, welchen Weg es gehen will. Es bedeutet auch territoriale Integrität, keine Veränderung von Grenzen ohne Einverständnis beider Seiten. Möglicherweise waren wir naiv zu glauben, dass dies für alle

Europäer akzeptabel sein könnte, einschließlich Russlands. Dass jegliche Interessensgegensätze unter Nationen auf friedlichem Weg gelöst würden, über die angemessenen Instrumente – den Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Wir haben nicht erkannt, dass Russland bereit war, das Völkerrecht zu verletzen.»

dpa: Muss die EU ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der gegenwärtigen Sicherheitslage an seinen östlichen und südlichen Grenzen überdenken?

Brok: «Ja, die EU muss ihren Vertrag erfüllen, was sie bislang im Hinblick auf die Strukturierte Zusammenarbeit nicht getan hat. Wir müssen uns auch die Entscheidungen des Europäischen Rates im Dezember 2013 zu «Pooling and Sharing» anschauen, Zusammenarbeit in Forschung und Beschaffung, Arbeitsteilung zwischen den Armeen. Nicht jeder muss alles haben. Wir, die Europäer, kooperieren nicht genug und nutzen nicht alle Synergien, die möglich wären. Die Situation um uns herum hat gezeigt, dass Krieg in Europa möglich ist, und wird den Druck zu mehr Zusammenarbeit in Verteidigungs- und Sicherheitsangelegenheiten erhöhen.»

dpa: Die Strukturierte Zusammenarbeit ist eine Art Koalition der Willigen. Sehen Sie derzeit ein Potenzial für eine solche Koalition.

Brok: «Ich denke, es wäre einfach, Länder dafür zu finden, aber Frau Ashton – wegen ihrer britischen Position – hat dies nie versucht.»

dpa: Und Sie setzen Ihre Hoffnung jetzt darauf, dass Frau Mogherini dies tut?

Brok: «Ich bin sicher. Ich denke, die internationale Situation wird uns dazu zwingen, schneller zu sein als zuvor.»